Italien im Katzenjammer
Italien ist am Ende seiner Südafrika-Mission am Boden wie seit 1974 nicht mehr. In Johannesburg ging die Ära der Weltmeister von 2006 um Captain Fabio Cannavaro zu Ende. Die WM zeigte, dass die Nachfolger (noch?) nicht in ihre Fussstapfen treten können. Marcello Lippis Nachfolger Cesare Prandelli muss bei Null anfangen.
Italien hat sich in Südafrika blamiert. Bis auf die Knochen. Gegen die Nummern 31 (Paraguay), 34 (Slowakei) und 78 (Neuseeland) wurde der Weltmeister sieglos Gruppenletzter. Das Debakel kam nicht ohne Ansage. In Italien schienen bloss das Team und Coach Marcello Lippi an eine Titelverteidigung zu glauben. Einen Monat vor der WM beurteilte die 'Gazzetta dello Sport' die Chancen: Schon die Halbfinalqualifikation käme einem riesigen Erfolg gleich, schrieb die Zeitung. Das waren im erfolgsverwöhnten Umfeld des italienischen Fussballs ungewöhnlich pessimistische Worte.
Gescheitert ist Italien letztlich nicht an der 'Überalterung' der Squadra oder der 'Nibelungentreue' von Lippi gegenüber seinen Weltmeistern, wie vielerorts kolportiert wird. Nur neun Helden von 2006 standen im Kader. In keiner Partie figurierten mehr als drei Spieler vom Weltmeister-Stamm in der Startformation. Italiens Problem war vielmehr, dass Akteure in Hauptrollen gedrängt wurden, denen die Erfahrung abgeht. Spieler wie Federico Marchetti (27), Domenico Criscito (23), Riccardo Montolivo (25), Claudio Marchisio (24) oder Simone Pepe (26) bestritten ihre erste Endrunde.
Einheimische nicht gefördert
Die Kluft zwischen den erfahrenen Weltmeistern und den jüngeren Spielern ist gross. Sie spiegelt ein Problem des italienischen Fussballs. Kein Spitzenklub ausser der in der letzten Saison auf den 7. Platz abgesackten Juve setzt auf jüngere Einheimische. Die italienischen U21-Auswahlen standen seit 2004 zweimal im EM-Halbfinal und gewannen einmal den Titel. Aus diesen Teams gehört aber ausser dem auf und neben dem Platz unberechenbaren Mario Balotelli (Inter) keiner zum engeren Stamm bei Inter Mailand, AS Roma oder Milan. Lieber setzen diese Vereine auf bewährtes (und meist ausländisches) Personal.
Dass die Qualität im italienischen WM-Kader daher nicht genügte, dafür wurde trotzdem Lippi verantwortlich gemacht. Viele Alternativen boten sich dem 'CT' allerdings nicht. Nicht zu Unrecht wiederholte Lippi fast gebetsmühlenartig, er habe «keine Phänomene zuhause gelassen». Natürlich hätten Spieler wie die «enfants terribles» Antonio Cassano oder Mario Balotelli das Niveau gehoben. Ob sie mit ihren charakterlichen Defiziten indes nicht andere Probleme geschaffen hätten, kann niemand beweisen.
Unter dem Strich hat Lippi in Südafrika ein Waterloo erlebt, für das er aber nicht zwingend die Hauptschuld trägt. Denn wo hätte er die 'Phänomene' herholen sollen? Inter gewann den Scudetto und die Champions League ohne einen einzigen Italiener in einer wichtigen Rolle. Das ist kein Zufall, auch englische und spanische Topklubs kommen ohne italienisches Personal aus.
Mangelnde spielerische Entwicklung
In der Konsequenz bedeutete dies, dass in Südafrika Spieler das Ruder hätten (mit-)rumreissen sollen, die bei Udinese, Fiorentina, Genoa oder Napoli unter Vertrag stehen. In Vereinen also, welche nicht einmal in der Serie A zur Spitze gehören, und denen demnach die Erfahrung in wichtigen internationalen Spielen gänzlich abgeht. Aus dem WM-Kader Italiens standen nur der verletzte Goalie Gigi Buffon, Gennaro Gattuso, der angeschlagene Andrea Pirlo und Gianluca Zambrotta schon mal in einem Champions-League-Halbfinal.
Für diese Probleme kann Lippi nichts, und doch trägt der 62-Jährige auch seine Teilschuld am Desaster. Er hat nach der (Wieder-)Übernahme der 'Azzurri' nach der EM 2008 von Roberto Donadoni vor allem am Teamgeist gearbeitet. Er setzte auf die Kraft einer (menschlich) intakten Gruppe. Das ist sein gutes Recht. Er hat dies schon zwischen 2004 und 2006 so getan, andere Nationalcoaches machen dies auch.
Doch Lippi richtete den Fokus zu wenig auf die spielerische Entwicklung des Teams. In den knapp 24 Monaten seiner zweiten Amtszeit, war keine Handschrift ersichtlich. Lippi änderte die Taktik und die Systeme so oft, dass die 'Squadra Azzurra' nie eine eigene (Spiel-)Philosophie präsentierte. In den drei Vorrundenspielen lief das Team in drei verschiedenen Systemen auf (vom 4-2-3-1 über 4-4-2 zum 4-3-3), ehe Lippi im Verlaufe der Partien nochmals zwei- bis dreimal die Marschroute änderte.
Lippi fand die Erfolgsformel nicht
Italien war ein Chamäleon, das sich in seiner wechselbaren Haut nie wohl fühlte. Vor vier Jahren ging Lippi ähnlich vor, doch damals hatten die Spieler die taktische Reife, um diese Unberechenbarkeit zum eigenen Vorteil zu nutzen. Dass Lippi eine Woche vor der WM erklärte, er habe klare Ideen und Vorstellungen von der Vorgehensweise in Südafrika, erscheint im Nachhinein wie blanker Hohn.
Lippi war zwei Jahre lang auf der Suche nach der erfolgreichen Formel. Gefunden hat er die richtige Kombination bis zum bitteren und schmachvollen Ende nicht. Auch deshalb sind nicht wenige in Italien froh, dass die Ära Lippi nun vorbei ist. Auch wenn die Tifosi bis zuletzt hofften, sie möge wenigstens noch ein paar Tage länger dauern.
(von Stefan Wyss /Si)
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