Si. Das Kollektiv des 20-Mann-Kaders mit einem Durchschnittsalter
von knapp 27 Jahren, die Konstanz in der Qualifikation und in der
Finalrunde und Trainer Marcel Koller machten das St. Galler
Fussball-Märchen wahr. Bis auf den ghananischen Goalgetter Charles
Amoah hat der FC St. Gallen keine Stars. Der Star ist die
Mannschaft. Diese Floskel hat beim Sensationsmeister seine
Gültigkeit. «Der FC St. Gallen ist in der Ostschweiz der
Katalysator kollektiven Wertgefühls», umschreibt Hochschul-
Professor Franz Jäger «seinen» FC St. Gallen. Der ehemalige
Nationalrat ist wie Alt-Bundesrat Kurt Furgler oder der ehemalige
TV-Unterhalter Kurt Felix ein Ur-St. Galler und regelmässiger
Tribünengast.
Überlegen ist der «namenlose» FC St. Gallen mit vier Punkten
Vorsprung Qualifikationssieger geworden und hat in der Finalrunde
mit teils imponierenden Leistungen nochmals zugelegt und alle
verblüfft. Erwähnt sei nur die phantastische Aufholjagd im
Startspiel bei Rekordmeister GC, als St. Gallen einen 0:3 Rückstand
wettmachte und in der Nachspielzeit nochmals zum 4:4 ausgleichen
konnte oder an die Gala beim 7:1-Heimsieg über Luzern. Die
Ostschweizer, getragen vom besten und treuesten Publikum der
Schweiz, haben entgegen zahlreichen Prognosen während der ganzen
Saison keinen Einbruch erlitten. Der Klub mit dem drittkleinsten
Budget der Nationalliga A hat die Gunst der Stunde im Schweizer
Spitzenfussball genutzt. Während Grossvereine wie GC oder Servette
mit steten Wechseln und Unruhen, überteuerten Spielerkadern und zu
hohen Ansprüchen von Krise zu Krise rutschten, bestach der FC St.
Gallen mit Spielern ohne Allüren und moderaten Salären durch
Harmonie, Konstanz und den meisten Plustoren.
Die Lehren aus der Vergangenheit
1904 wurde der FC St. Gallen erstmals und seither nie mehr
Meister. Die sportlichen Erfolge während eines Jahrhunderts blieben
trotz den Vorstössen in den UEFA-Cup unter Helmuth Johannsen Mitte
der 80-er-Jahre mässig. Nur der Cupsieg 1969 und die
Hallenmeisterschaft 1998 kann in der Erfolgsgeschichte aufgeführt
werden. St. Gallen blieb die Fussballprovinz nach Winterthur.
Unüberhörbar waren dafür die steten finanziellen Sorgen und oftmals
auch das Zittern um die Ligazugehörigkeit.
Genau vor zehn Jahren schwelgte die Ostschweiz erstmals in
Euphorie. Die Chilenen Zamorano, Rubio und Mardones hatten zusammen
mit den Schweizern Fischer, Hegi, Rietmann und dem jetzigen
Captain, Torhüter Stiel, die Fussballregion verzaubert. Übermut und
irrationalen Transfers folgte der jähe Absturz. Es blieb der fünfte
Platz, keine Teilnahme am Europacup und ein finanzieller
Scherbenhaufen. Die fussballbegeisterte Region wendete in nder
Folge zweimal in letzter Minute den finanziellen Konkurs dank
Kraftakten auf allen Ebenen ab. Sportlich verschwand der FCSG
zwischenzeitlich sogar in der Anonymität der Nationalliga B.
Die Mentalität von Siegern
Aus den Fehlern der Vergangenheit wurde gelernt. Das Espenmoos
blieb zwar der Kessel kollektiven Wertgefühls, doch bei aller
Freude über die Spitzenleistungen der Grün-Weissen ist Vernunft
einstiger Selbstdarstellung gewichen. «Unsere Stärken sind
Teamgeist, Konstanz und Abgeklärtheit. Wir sind reifer geworden und
haben ein gesundes Selbstvertrauen entwickelt. Es ist mir gelungen,
meinen Spielern die Mentalität von Siegern zu vermitteln», erzählt
Marcel Koller, der Baumeister der St. Galler Erfolge. Der ruhige
Zürcher, ein Grasshopper-Urgestein, hat fussballerisch limitierte
Spieler und abgeschobene Akteure wie Mazzarelli oder Stiel auf ein
beachtliches Niveau gebracht. Der Trainer-Nachfolger von Roger
Hegi, der den Höhenflug einleitete und Zellweger, Zwyssig, Müller,
Dal Santo oder Contini förderte, hat eine athletische Einheit
geformt, die auch an ihre spielerischen Qualitäten glaubt und einen
begeisternden Offensivfussball spielt, der die Fans entzückt.
Bescheidenheit ist die grosse Zier des neuen Meisters. Im
intakten Umfeld ordnet sich vom Klubarzt bis zum Platzwart alles
dem grün-weissen Kollektiv unter. «Einmal St. Galler, immer St.
Galler. Wir sind eine Mannschaft mit Feuer und Herz», drückte sich
beispielsweise Klubarzt Dr. Arnold Jäger aus, der Bruder des
ehemaligen Schweizer LdU-Politkers.
«Wir möchten die Qualifikation für einen internationalen
Wettbewerb erlangen», formulierte Trainer Koller seine Zielsetzung
bis zur Zielpassage und nahm -- wie seine Spieler -- das Wort
«Meister» nie in den Mund. «Stets schauten wir von Spiel zu Spiel
und konzentrierten uns darauf. Es wäre doch vermessen gewesen, vom
Titel zu sprechen, wenn die notwendigen Punkte noch nicht gewonnen
sind. Die Substanz der Spielerkader unserer Konkurrenten erlaubte
uns kein Abheben. Dem Druck haben wir deshalb standgehalten.
Belastet hat er uns nie, weil meine Spieler mental einen
unwahrscheinlichen Entwicklungsprozess positiv abgeschlossen haben.
Sie haben erfahren, dass sie auch im Schweizer Spitzenfussball
Spitzenkräfte sind, und haben erkannt, dass der Glaube oftmals
Berge versetzen kann.»
In der Finalrunde 1999, der ersten unter Koller, brach der FC
St. Gallen nach zwei Starterfolgen ein. Alle, auch der Trainer,
zogen ihre Lehren und entwickelten das Kollektivgefühl, aus dem
Champions geformt werden.
Amoah bleibt und zwei Verstärkungen
Der Meistertitel bereitet den Verantwortlichen aber nicht nur
Freude. Die Prämien stiegen enorm, und die Vertragsverlängerungen
in den letzten Wochen verliefen schleppend. Erfolg hat seinen
Preis. Dennoch blieben St. Gallen sämtliche Teamstützen wie Stiel,
Zwyssig, Müller und Zellweger erhalten. «Und auch Amoah bleibt»,
ist Trainer Koller überzeugt. «Er hat noch einen Vertrag für drei
Jahre. Zudem fehlt ihm ein konkretes Angebot. An einen Klub aus der
Zweiten Bundesliga geben wir ihn nicht ab. Amoah hat seinen Zenit
noch nicht erreicht und ist noch steigerungsfähig. Sollte der
Verein aber ein Angebot von zehn Millionen Franken oder mehr
erhalten und Amoah einen Wegzug wünschen, müssen wir die Situation
neu überdenken. Doch ich bin Realist und rechne weiter mit unserem
treffsicheren Goalgetter, der ein wichtiges Teammitglied in unserem
Klub ist.»
St.Gallen wird auf die neue Saison hin sein Budget um mindestens
700 000 Franken auf 5,7 Millionen erhöhen und sucht zwei
Verstärkungen. Vor allem ein kräftiger, kopfballstarker Stürmer und
ein offensiver Mittelfeldspieler werden gesucht. Typen wie
Koumantarakis oder Bühlmann in Hochform wären gefragt. Doch bei St.
Gallen wägt man vernünftigerwiese alles ab und bleibt auch im
Rausch der Meisterschaft bodenständig und realistisch.
Peter Wyrsch
(sda)